[:de]Nachtrag, erste Eindrücke, 12.09.17

Am 12. September gegen Nachmittag (Ortszeit) steigen wir endlich in Santa Cruz aus dem Flieger. Noch in einer Art Müdigkeits-Verwirrungszustand, hervorgerufen durch die lange Reise, tappt also einer nach dem anderen zur Gepäckausgabe, findet mit Ach und Krach nach und nach alle seine Gepäckstücke wieder und dann geht es durch den Zoll. Schon im Flugzeug haben wir ein Formular ausgefüllt, auf dem sämtliche potentiell meldepflichtige mitgeführte Güter vermerkt werden müssen. Da habe ich mit zittrigen Fingern Angaben gemacht wie „Nene ich hab nicht vor zu bleiben, bin nur Touristin, keine Sorge“ (man hatte uns gesagt, das mache die Einreise um einiges leichter) und „Nene, keinerlei Bestellungen für andere Menschen im Gepäck, alles nur für mich“ (Das Material für ein komplettes Schlösslenarrenhäs, das von den Stickfrauen unserer Partnergemeinde bestickt und dann wieder zurückgesandt werden soll, würde ich dann zur Not als Geschenk ausgeben. Oder ich sag halt, Sticken sei meine ganz persönliche Leidenschaft…).

Nur bei den Lebensmitteln war ich ausnahmsweise ehrlich. So ehrlich, wie ich es gar nicht hätte sein müssen. Als ich nämlich dem Zollbeamten jetzt meinen Zettel in die Hand drücke, schaut der mich nach einem kurzen Blick darauf ganz stutzig an.

Wie viel Kilogramm Schokolade ich den einzuführen gedächte. Kilogramm? Ne da müsse er was falsch verstanden haben, mehr als 500 Gramm seien das bestimmt nicht. Ach, das interessiere ihn dann gar nicht erst? Na hören Sie mal, ich habe nach bestem Wissen und Gewissen und unter Eid diesen Wisch ausgefüllt und jetzt interessiert sich hier keiner für meine drei Tafeln Weingartener Stadtschokolade? Ist ja unmöglich.

Jedenfalls ist mein Formular falsch, ganz falsch, so falsch, dass ich es an Ort und Stelle neu ausfüllen muss. Das macht mich echt nervös. Die Polizisten sind die Ruhe selbst. Vorschlag für ein Wimmelbild: 100 entspannte Beamte und eine verwirrte Clara.

Nächste Station: Die Ampel! Da drückst du auf einen Knopf. Wenn du Glück hast, passiert gar nichts und du kannst ungehindert einreisen. Wenn das kleine Lichtchen, das da so passiv-aggressiv über dem besagten Knopf lauert, allerdings rot aufleuchtet, dann geht es zur Gepäckkontrolle. Es würde zur Situation passen, dass mir gleich genau das passiert. Tut es aber nicht. Komisch. Ich kann mein Glück kaum fassen und schreite durch eine Schiebetür in einen Gang, an dessen Ende mir schon vielversprechend das bolivianische Licht der Freiheit entgegenscheint – Moment, mir fehlt irgendwas. Mein Koffer! Wo ist mein großer grüner Koffer? Auf der dunklen Seite der Macht ist er geblieben, noch vor der bösen Ampel. Ich habe ihn wohl stehenlassen, als ich das Formular neu ausfüllen musste. Natürlich lassen mich die Beamten dieses Mal nicht wieder so ohne Probleme passieren. Und so komme ich doch noch zu meiner Gepäckkontrolle. Am Schicksal führt eben kein Weg vorbei. (Lektüreempfehlung: Max Frisch, 1957 – „Homo Faber“, Peter Stamm, 1998 – „Agnes“, Georg Büchner, 1794 – „Dantons Tod“)

Erstmal durch den Zoll (dieses Mal endgültig!), werden wir jeder einzeln von den Koordinatoren des BKHW empfangen. Zuerst bin ich etwas verunsichert (auch mal wieder…) von diesem fremden Bolivianer, der da grinsend und mit ausgebreiteten Armen auf mich zu kommt. Aber als ich dann bei näherem Hinsehen das Logo auf dem T-Shirt entdecke, klärt sich alles auf und ich lasse mich umarmen und willkommen heißen.

Nach einem ersten kleinen Ausflug zum Geldautomaten, geht es dann mit Bussen zur Unterkunft, in der auch unser Seminar stattfinden soll. Busse, die den vielen Erzählungen zum bolivianischen ÖPNV, denen wir im Vorfeld so oft ungläubig gelauscht haben, wirklich nur alle Ehre machen.

Vollgestopft bis übers Dach (unterm Dach war nicht genug Platz) mit unserem Gepäck, kutschieren sie uns durch ein ganz in orange-rote Abendstimmung getauchtes Santa Cruz. Ich sitze am Fenster, notiere im Kopf so gut es geht die ersten Eindrücke des Landes in dem ich das nächste Jahr verbringen werde, und vergleiche sie mit dem, was ich an Erzählungen und Erwartungen schon von zuhause mitgebracht habe:

  • Die warme Abendluft, die wir im höhergelegenen Cochabamba so wohl eher selten haben werden und der leichte Wind, der mir durch das halboffene Busfenster ins Gesicht weht und dabei das während der Reise entstandene Vogelnest auf meinem Kopf zur Vollendung bringt.
  • Die Dämmerung, die ziemlich früh und ziemlich schlagartig eintritt, was bedeutet, dass wir zwar im vollen Tageslicht losfahren, es aber schon nach der Hälfte der Fahrt stockdunkel ist.
  • Die allgegenwärtige Frömmigkeit der überwiegend sehr katholischen Bolivianer, die sich vor allem in Form von Rosenkranz- oder „Divino Niño“-Aufklebern, und „Dios bendiga (…)“ Aufschriften auf Bussen und Autos äußert.
  • Der gesunde Nationalismus, den ich schon im Flugzeug erfahren durfte. Viel mehr Landesflaggen und -farben, auf jedem Nummernschild steht groß „BOLIVIA“, große Plakate (der Regierung vermute ich) die darauf hinweisen, dass dieser oder jener Aspekt des „geliebten Heimatlandes“ oder der Stadt geschützt und wertgeschätzt werden soll.
  • Die Lockerheit im Umgang mit Regeln, zumindest mit denen im Straßenverkehr
  • Die Gelassenheit im Umgang mit Problemsituationen oder zeitlichen Verzögerungen – ein Hänger, der am Straßenrand steht und mittels Pappschild zum Verkauf angeboten wird, blockiert den Verkehr? Dann steigen eben mal kurz ein paar starke Männer aus ihren Autos und hiefen das Ding in Gemeinschaftsarbeit auf den Gehsteig.
  • Die Blicke, die uns aus den diversen Gefährten auf der Nachbarspur immer wieder zugeworfen werden. In den Augen vieler sind wir jetzt nämlich zuallererst einmal einfach nur die „gringos“. Eine Bezeichnung, die eigentlich speziell die Amerikaner meint, von denen wir leider so einfach nicht zu unterscheiden sind. Die Weißen halt.
  • Das Straßenleben – an jeder Ecke wird Essen angeboten, vor allem „Pollo“ – Hühnchen – in den verschiedensten Variationen, Cholitas (es gibt sie wirklich, die Damen indigener Abstammung mit Zöpfen, Rock und Hut, nicht nur in Lateinamerika-Dokus und Fotokalendern!) verkaufen auf dem Gehweg frischgepresste Säfte und zwischen all dem tummeln sich die Straßenhunde wie neuerdings AfD-Abgeordnete im Bundestag. (Die Schreckensnachricht vom Sonntag hat auch uns hier erreicht…)
  • Der Geruch. Das ist jetzt vielleicht Santa-Cruz-spezifisch, aber da ist so ein warmer, süßer Geruch überall.
  • Dieses allgemeine, vermutlich durch die Müdigkeit bedingte und irgendwie naive, friedliche Glücksgefühl, dass sich in mir ausbreitet und mir so verwerfliche Gedanken durch den Kopf jagt wie „oooh wie schöön alles ist, wie schöön sie sind, diese Meenschen“ und „ooh alles so exoootisch, alles so reaaal“. Meine nebligen Gedankengänge gleichen denen eines überheblichen Zoobesuchers und ich schüttele sie erst angeekelt ab, als mir urplötzlich die entsprechenden Stellen aus der guten alten „Homo Faber“-Schullektüre einfallen (nochmals, Lektüreempfehlung: Max Frisch 1957 – „Homo Faber“), und wie wir den armen Walter in unseren Interpretationen ob seiner Arroganz auseinandergenommen haben.

Im Laufe der Busfahrt merke ich, wie ich mir mit dem Eindrückesammeln zunehmend schwerer tue und dann geht mir auch auf, warum. Ich bin nicht nur unglaublich müde von der Reise und der Zeitverschiebung – ich habe auch seit dem Zwischenstopp in Santiago de Chile keinen Schluck mehr getrunken. Mein Zustand von extremer Erschöpfung und Dehydratation lässt mir nun in regelmäßigen Abständen die Augen zufallen und bald gebe ich mich einer Art Halbschlaf hin, aus dem ich jedoch immer wieder gewaltsam herausgerissen werde. Der Grund – anfangs die Tumulte des bolivianischen Straßenverkehrs. Als das nicht mehr zieht, denkt sich mein Körper neue, härtere Methoden aus, um mich bei Bewusstsein zu halten: Vor meinem inneren Auge taucht plötzlich, groß und mächtig, eine gefüllte 0,5 Liter Flasche Krumbach-Sprudel Medium auf! Ich greife danach, fasse ins Leere – und bin wieder hellwach. Selbiges wiederholt sich noch einige Male, bis wir endlich vor einem Gebäudekomplex namens „Ciudad De La Alegría“ – Stadt der Freude – zum Halt kommen.

Hier mache ich wohl am besten einen Punkt, sonst wird das zu viel Text. Als nächstes ist ein Bericht vom Ankommens-Seminar in Planung, und dann werde ich mich beeilen, euch so schnell wie möglich auf den Stand der Gegenwart zu bringen, auch wenn das bei der Ausführlichkeit meiner Beschreibungen im Moment noch unmöglich erscheint. Ich gebe aber mein Bestes, versprochen.

Eure Clara[:]