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Leave them kids alone!

Gedanken zur Arbeit mit den Kindern, Unterrichts- und Erziehungsmethoden

Das Hausaufgabenmachen mit den Kindern im Projekt bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung. Dabei ist es im Grunde genommen oft gar nicht deren Schuld. Ich sehe das Problem viel mehr bei den Unterrichts- und Erziehungsmethoden die hier üblich sind. Natürlich habe ich als neunzehnjährige Amateur-Profesora ohne jegliche Qualifikation nicht den geringsten Anspruch darauf, an solchen Dingen Kritik zu üben, geschweige denn Verbesserungsvorschläge zu äußern. Trotzdem werde ich versuchen (hier, im für Internet-Verhältnisse „sicheren“ Rahmen) die Situation einmal etwas näher zu erläutern und ein paar vorsichtige Gedanken dazu mit euch zu teilen.

 

Hey! Teachers!

Im Projekt hat sich das in den ersten Monaten so eingebürgert, dass Rahel und ich im Normalfall mit Ingrid (das ist neben der Direktorin die einzige fest angestellte Pädagogin) die „Peques“, die Kleinen, betreuen. Mittlerweile kenne ich so alle Namen, oft auch grob die familiären Hintergründe und individuellen „Ticks“ der Kinder und sie wiederum kennen mich.
An sich sind sie alle sehr liebenswürdig und gerade uns gegenüber auch wirklich aufgeschlossen.
„Hermana Clara“ nennen sie mich, oder auch einfach „Hermana“, Schwester, da müssen sie weniger denken (Rahel und mich können sie nicht immer auf Anhieb auseinanderhalten). Das finde ich eigentlich ganz süß, aber wenn ich es aus drei Richtungen und fünf Mündern gleichzeitig ins Ohr gebrüllt bekomme, wird es mir dann manchmal auch zu viel.

Meistens sitzt jede von uns an einem Tisch mit jeweils bis zu sechs Kindern (nach Alter sortiert, zuerst Kindergarten und erste Klasse, dann die Zweitklässler und am dritten Tisch die aus der Dritten). Die Jungs und Mädels sind teils mehr, teils weniger „hilfsbedürftig“, wenn man so will – der Begriff kann sowohl auf die Hausaufgabenhilfe im Speziellen als auch auf die allgemeine Situation der entsprechenden Kinder bezogen werden. Bei einigen ist sogar anzunehmen, dass sie irgendeine Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsstörung oder eine Lernschwäche haben.

 

We don’t need no education!

Häufig wundert es mich aber auch gar nicht, wenn ein Kind nicht länger als ein paar Minuten konzentriert bei der Arbeit bleiben kann oder sich direkt komplett verweigert. Angesichts der Aufgaben, die die Armen da Tag für Tag aus der Schule mitbringen, kann ich teilweise nur den Kopf schütteln. Ein Hausaufgaben-Typ der bei Lehrern besonders beliebt zu sein scheint, ist das Auflisten einer bestimmten Menge an Zahlen (zum Beispiel die Zahlen von 0 bis 2000 in Fünferschritten), wobei alle „vollen Zehner“ mit rotem Stift markiert werden müssen. Manchmal wird neben den Ziffern auch noch die ausgeschriebene Version verlangt, und das von Schülern, die sich zum Teil noch mit dem Buchstabieren des eigenen Namens schwertun. Ähnlich oft müssen auch bestimmte Buchstaben oder Zahlen aus der Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt oder seitenweise abgeschrieben werden.

Bei den Größeren sind es manchmal auch ganze Buchseiten, die ohne erkennbaren Nutzen samt zugehörigen Zeichnungen möglichst exakt ins Heft kopiert werden müssen. Den Lehrern scheint es da egal zu sein, wer letztere anfertigt, solange sie gut sind. Deshalb kommen die Kinder vom Dritten Tisch regelmäßig mit ihren Heften zu mir und ich – insgeheim macht mir das wirklich Spaß – darf dann Freiheitskämpfer, Forellen oder Wurzelgemüse zeichnen bis zum Gehtnichtmehr. Letztens hab ich nach den Anweisungen Ingrids in zwei Stunden konzentrierter Arbeit eine Broschüre gegen Umweltverschmutzung erstellt, die, so wurde mir im Nachhinein berichtet, dem entsprechenden Schüler viel Lob eingebracht haben muss.

Einen starken Kontrast zu den eben beschriebenen Aufgabentypen meinte ich zu Beginn in den Mathehausaufgaben der älteren Schüler zu erkennen. Ein klassisches Beispiel wäre da die schriftliche Division, die man hier im Laufe seiner Schulzeit zwangsläufig bis zur Perfektion erlernt. In den höheren Klassen dividieren sie dann durch fünfstellige Zahlen, ich glaube das habe ich schon einmal erwähnt. Ich fand das lange ziemlich beeindruckend, genauso wie viele andere mathematische Operationen, die die Jugendlichen hier scheinbar mühelos „runterrattern“. Das „Runterrattern“ ist allerdings meiner jetztigen Ansicht nach eigentlich eher ziemlich problematisch. Wenn man mit den Schülern arbeitet und etwa ein Problem bei einer solchen Aufgabe auftritt, merkt man nämlich oft ganz schnell, dass sie zwar die Lösungsstrategien verinnerlicht und wenn es gut läuft sogar ihr Einmaleins im Kopf haben, aber dass nicht wirlich ein Verständnis für Zahlen da ist und erst recht nicht für die Bedeutung hinter den besagten „Operationen“ die da unternommen werden.

 

THOSE! Leave THOSE kids alone!

Dazu kommt, dass man von Zeit zu Zeit sogar Fehlinfos in Heftaufschrieben findet oder Aufgabenstellungen, die so unklar sind, dass man annehmen muss, dass der Lehrer sich seiner Sache entweder selbst nicht wirklich sicher ist oder zumindest sehr wenig Zeit in die Unterrichtsplanung investiert hat. Besonders wenn es um Wortarten und ähnliches geht, sorgt das öfter für Verwirrung. Ich musste teilweise unsere gute Ingrid davon überzeugen, dass „bellt“ beim besten Willen nicht als Adjektiv für das Wort „Hund“ durchgehen kann, auch wenn es noch so zutreffend ist als Beschreibung.

Oft ientsteht da ein richtiger Zwiespalt für mich. Ich bringe es auf der einen Seite nur schwer übers Herz, inhaltlich fragwürdige Aufschriebe einfach so stehen zu lassen oder jemandem eine Methode beizubringen, die für mich didaktisch keinen Sinn ergibt. Aber gleichzeitig weiß ich, dass es die Kinder nur um so mehr verwirren würde, würde ich jetzt anfangen die Kompetenz ihrer Lehrer infrage zu stellen, vor allem wenn man bedenkt, dass die es sind, die später die Klassenarbeiten stellen und korrigieren. Und bei alldem bin ich mir auch immer meiner Rolle als unqualifizierte Voluntaria bewusst – Kritik üben ist grundsätzlich eine heikle Sache und fühlt sich auch einfach falsch an.

Das Arbeiten mit den jüngeren Projektteilnehmern bringt noch eine ganz andere Besonderheit mit sich. Die meisten von ihnen kommen aus Familien in denen viel Quechua gesprochen wird, was Spanisch wenn man es genau nimmt zu ihrer ersten Fremdsprache macht. Auch wenn sie an sich flüssig sprechen ohne viel nachdenken zu müssen, unterlaufen den Kindern doch immer wieder die gleichen Fehlerchen, im Normalfall sind es Grammatik- und Ausspracheschwierigkeiten. Laute wie „rr“ werden zu „s“, „r“ zu „l“ oder „ñ“ und „n“ werden verwechselt. Was auch häufig vorkommt sind „intelligente Fehler“, etwa beim Konjugieren von Verben. „Jugar“ – „Spielen“- zum Beispiel, diphtongiert für „yo juego, tú juegas, él juega, ustedes juegan, ellos juegan“. In der ersten Person Plural ändert sich derVerbstamm jedoch nicht: „nosotros jugamos“. Trotzdem hört man die Kinder immer wieder sagen: „Juegamos?“ oder „Qué vamos a juegar?“ Ein nachvollziehbarer Fehler, aber ein Fehler. Genauso wie „hamos jugado“ statt „hemos jugado“ oder „yo sabo“ an Stelle von „yo sé“. In solchen Fällen werden die Kinder fast immer von Ingrid oder Aracely korrigiert, deshalb habe ich mir das auch angewöhnt, auch wenn es sich seltsam anfühlt, einen „Quasi-Muttersprachler“ zu verbessern.

Wenn Erwachsene Fehler machen, lass ich es allerdings bleiben. Es kommt aber tatsächlich viel vor und oft lerne ich dann erst später im Spanischunterricht, dass das, was ich tagein tagaus zu hören bekomme, offiziell ganz einfach falsch ist. „Vamos en pie“ statt „a pie“, „su chompa de la Delina“statt „la chompa de Delina“ und so weiter. Sowas wird leider sehr schnell zu einer schlechten Angewohnheit, aber wozu sich aufregen, wenn es am Ende trotzdem alle machen? Sprache wirft doch immer wieder interessante Fragen auf…

 

Another Brick in The Wall

Es erfordert zugegebenermaßen ein erhebliches Maß an Geduld, so einen Haufen Kinder in Schach zu halten. Manchmal hilft aber auch Geduld nicht und dann gibt es hier ein paar gängige Methoden, die da heißen: „Schreien“, „Drohen“ und „Kollektivstrafe“. Ich will nicht sagen, dass das in ganz Bolivien so praktiziert wird und ich glaube auch nicht, dass die entsprechenden Autoritätspersonen das aus böser Absicht heraus tun. Aber der Begriff „gängig“ trifft zu und ich vermute, dass die meisten das einfach während ihrer Ausbildung zum Pädagogen so gelernt haben.
Ich gebe sogar zu, dass es oft sehr verlockend ist, es der Ingrid gleichzutun – wenn sie laut wird ist sie die Personifikation von Autorität – und die oben genannten Methoden anzuwenden. Für mich bleibt es aber immer noch ein „letzter Ausweg“. Das hat dazu geführt, dass Ingrid dann manchmal am Ende eines solchen, schicksalhaften Tages erzählt: „Heute waren sie wieder besonders schlimm… Sogar Clara hat geschrien!“

Ich bin aus verschiedenen Gründen sparsam mit „Schreien“ und Co. Beispielsweise habe ich das Gefühl, dass sie irgendwo einen Unwillen voraussetzen die Kinder als Individuen zu betrachten. In dem Moment in dem ich schreie oder drohe, sehe ich das unfähige/ ungehorsame/ auffällige Kind als eben solches und als nichts mehr. Wenn es anders wäre, würde ich mich vielleicht fragen, wo denn gerade die Wurzeln des Problems liegen um dann genau dort anzusetzen. Wenn ich mich ausschließlich der beschriebenen Methoden bediene, trage ich, zumindest nach meiner Theorie, nur weiter zum Problem bei.

Und trotzdem – das alles ist so viel leichter gesagt als getan. Ich gebe mein Bestes, aber eine Beobachtung, die ich über die Zeit gemacht habe, ist, dass die Kinder bereits so auf diese spezielle Art der Erziehung eingestellt sind, dass andere Ansätze gar nicht greifen. Und das macht es für mich wirklich nicht leicht.

 

„If you don’t eat yer meat, you can’t have any pudding!“

Zu „Erziehungsmethoden“ können wohl auch die Essensregeln gezählt werden, die im Projekt gelten. Grundsätzlich muss der Teller leergegessen werden. Verständlich – die Kinder sollen ja nicht pingelig sein mit dem Essen, vor allem im Angesicht der Tatsache, dass es genug gibt, für die die Mahlzeit im Projekt die einzig vernünftige des Tages ist. Aber besonders mit Blick auf die stattliche Größe der Portionen muss man sich manchmal schon fragen, inwiefern es sinnvoll ist, einem Kind Löffel für Löffel hinunter zu zwingen, wenn es ganz offensichtlich nicht mehr will oder kann. Ich übertreibe nicht – es hat dann auch schon mal eines die letzten Löffelvoll wieder ausgespuckt.

Andere Regeln (wobei die nur für die Kleinen gelten) verbieten das Trinken bevor der Teller leer ist oder das Aufstehen vom Tisch, bis auch der letzte Nachzügler aufgegessen hat. Das führt dazu, dass regelmäßig Esswettberbe stattfinden und die Kinder sich in unvernünftigen Geschwindigkeiten ihren Reis reinschaufeln oder aus Stolz immer noch ein Glas Refresco mehr als der Nachbar runterkippen. Und wenn jemand etwas langsamer isst, ist der natürlich Schuld daran, dass die anderen noch nicht Spielen gehen können und das ist ein böses Verbrechen. Man muss aber zugeben, dass es im Großen und Ganzen recht gut „funktioniert“ – das heißt, der Großteil der Kinder isst in überschaubarer Zeit auf, ob sie es gerne tun, ist die andere Frage.

 

Dark sarcasm in the classroom?

Diese Beschreibungen müssen jetzt zunächst einmal einen ziemlich tristen Eindruck gemacht haben. Ich kann aber zur Beruhigung sagen, dass wir hier im Projekt eigentlich eine echt schöne Atmosphäre haben. Die Kinder scheinen gerne zu kommen und neben den „Unannehmlichkeiten“, die vielleicht hin und wieder beim Essen oder den Hausaufgaben auftreten, haben sie ja auch immer die Möglichkeit zu spielen, sich auszutoben und einfach „Kind“ zu sein.
Gerade auch die Beziehung zwischen „Lehrern“ und Schülern ist größtenteils total gut und friedlich.

Wir als Freiwillige haben nochmal Sonderstatus, weil wir „’was Besonderes“ sind und weil wir in mancherlei Hinsicht mit unseren anderen Ansätzen für Abwechslung sorgen.
Ganz allgemein scheint das Projekt den Kindern gut zu tun, weil sie da vielleicht einfach mehr Aufmerksamkeit und Verständnis bekommen als anderswo. Die Erziehungsmethoden, die oben beschrieben wurden, zeigen nur eine Seite der „Wahrheit“. Man muss aber wissen, dass das Projekt grundsätzlich darauf ausgelegt ist, die individuellen Probleme der Kinder zu erkennen und ihnen zu helfen. Auch die familiäre Situation der Teilnehmer wird verfolgt und wenn irgendwo die Möglichkeit besteht, zu helfen, dann wird das getan.

Das zahlt sich aus. „Hermana, te quiero“, „Gracias por enseñarme, Hermana“, „Tan linda eres, Hermana“ bekomme ich praktisch täglich zu hören und ich glaube, das meinen die ernst. Das ist auf der einen Seite wahnsinnig schön und gleichzeitig macht es mich, wenn ich so darüber nachdenke, auch irgendwie traurig, dass diese Kinder so viel Liebe für uns übrighaben. Die sollte doch an ihre Eltern gehen und die Personen, die sie immer um sich haben werden, nicht and ein paar blonde Mädels, die sich nach knapp zwölf Monaten wie selbstverständlich wieder dahin zurückziehen, woher sie gekommen sind.

 

All in all…

Nichtsdestotrotz bin ich dankbar diese Erfahrung machen zu düfen. Jeden Tag mit stürmischen Umarmungen begrüßt zu werden (und dann sowas: Hermana, bist du schwanger??) oder Kindergesichter in die Bauchgegend gedrückt zu bekommen (inklusive Rotznase…) ist doch einfch was schönes.

Ich bezweifle allerdings, dass ich die Arbeit mit Kindern diesen Alters auf Dauer zu einem Beruf machen werde. Ich habe großen Spaß daran, nach meinen Möglichkeiten zu „lehren“, Kindern beim Wachsen und sich Entwickeln zuzuschauen und ihnen dabei zu helfen, solange sie zumindest ansatzweise kooperativ sind. Wenn nicht, so muss ich leider immer wieder feststellen, bin ich ziemlich hilflos und manchmal fehlt mir tatsächlich einfach die Geduld und das Verständnis für bestimmte Verhaltensmuster, bestimmtes Nicht-Wissen, -Können oder -Wollen.

Die Reaktion der Kinder auf mich als Person macht mich aber zuversichtlich, dass ich in dem was ich hier tue nicht so ganz falsch liegen kann, und das beruhigt mich. Und so genieße ich die Zeit, die mir noch mit den lieben Peques bleibt, im Wissen, dass ich und hoffentlich auch sie um viele schöne Eindrücke, Erfahrungen und Erinnerungen reicher aus diesem Jahr herausgehen werden.

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