[:de]Seit etwa einem Monat arbeiten wir nun schon regelmäßig abwechselnd im Projekt Piñami Chico und an zwei verschiedenen Standorten in der Region Uspha-Uspha.

Das  Projekt „Piñami Chico“

Dienstag, Mittwoch und Freitag laufen wir also morgens gegen neun von Zuhause aus los in Richtung Piñami, das sind etwa 20 Minuten zu Fuß. Vormittags helfen wir dann den Müttern bei der Vorbereitung des Mittagessens (also genauer gesagt beim Kartoffelschälen, Gemüsewaschen, Schnippeln, Tische- und Bödenputzen oder beim Zubereiten von Nachmittagssnacks) und später bereiten wir den Apoyo Escolar vor, das ist die Hausaufgabenhilfe. Da machen die Kinder neben ihren Schulaufgaben im Normalfall auch noch Arbeitsblätter und Aktivitäten, die vom Projekt aus kommen und die im Vorfeld ausgewählt und beispielsweise nach Schwierigkeitsgrad geordnet werden müssen. Bereits bearbeitete Blätter müssen außerdem jeden Tag in die Ordner der entsprechenden Kinder einsortiert werden und das kostet alles ziemlich viel Zeit – unsere Hilfe scheint jedenfalls sehr willkommen zu sein.

Ab circa ein Uhr Mittags trudeln dann nach und nach die etwa 50 Kinder ein, waschen sich unter Aufsicht die Hände, halten im Chor ein wundervolles Tischgebet („Graaaaacias Señooooor…“) und bekommen dann ein ausgewogenes Mittagessen (abwechselnd am einen Tag eine volle Mahlzeit, meist Fleisch oder Gemüse mit einer Beilage, und am anderen Suppe mit Fleisch bzw Hühnerbein. Um letzteres konnte ich mich bisher bis auf ein Mal immer drücken. Es ist echt seltsam unter Beobachtung an so einem Fuß mit Haut und Krallen und allem rumzunagen…).

Nach dem Essen werden die Zähne geputzt und erneut die Hände gewaschen und dann geht es mit der Betreuung los. Dazu teilen sich die Teilnehmer in zwei Gruppen auf. Unten sitzen die aus den höheren Klassen und im oberen Stockwerk die Kindergarten- und Vorschulkinder sowie die aus den ersten Klassenstufen oder die, die sich grundsätzlich etwas schwerer tun. Angesprochen werden wir, wie die anderen Erwachsenen, mit „Hermana“ (Schwester), was uns auch gleich eine gewisse Authorität verschafft. Wenn irgendwann allerdings fünf Kinder gleichzeitig an dir zerren und dir dabei „Hermaaaanaaaa“, „Hermana, enseñameeeee“, „Hermana, ¿cómo se escribe …?“, „Hermana, no pueedooo“, „Hermana, ¿puedo ir al bañooo?“ ins Ohr brüllen, dann hängt dir die Anrede aber auch ganz schnell wieder zum Hals raus.

Wir helfen natürlich trotzdem wo wir können. Anfangs eine ziemlich schwierige Angelegenheit – wir können nämlich gar nicht so viel. Schriftlich dividieren ist zum Beispiel so eine Sache, die hatte man vielleicht vor langer Zeit mal verinnerlicht, aber in unserem Bildungsplan lag der Schwerpunkt in den höheren Klassen einfach zunehmend auf anderen Dingen. Hier fangen sie schon in den niedrigen Stufen an, durch zweistellige Zahlen zu dividieren und dann steigern sie sich mit der Zeit bis in den fünfstelligen Bereich. Am Anfang tat ich mir damit echt schwer, konnte kaum helfen und musste mir das Ganze im Gegenteil sogar mehrfach von den Schülern erklären lassen. Mittlerweile dividiere ich aber selbstbewusst durch siebenziffrige Zahlen und ich habe auch vor, mir diese harterarbeitete Fähigkeit in Großbuchstaben in den Lebenslauf zu schreiben.

Oliver!

Die Erleuchtung im Bereich der Mathematik war aber nicht die einzige offenbarungsähnliche Erfahrung in Pinami. Schon am zweiten Arbeitstag habe ich nämlich eine weitere schöne Entdeckung gemacht: Das Bücherregal! Auf Nachfrage hat man mir gesagt, ich dürfe selbstverständlich ausleihen was immer mich interessiert. Abgesehen davon wurde mir aber sofort ein bestimmtes Buch ganz dringlichst empfohlen: „La Vaca“ – ein Selbsthilfebuch, dass dir anhand einer „lustigen“ Metapher zu einem erfolgreichen Leben verhelfen soll (Las vacas – die Kühe- symbolisieren da alle Mittelmäßigkeiten im Leben und es wird dann beschrieben wie man seine Kühe loswird und das finde ich eigentlich ziemlich gemein den Tieren gegenüber, deshalb habe ich es bisher nicht über die Einleitung hinweg geschafft). Natürlich habe ich die Reihen zerfledderter Romane auch selber gleich ausgiebig inspiziert und mich daraufhin für einen Titel entschieden, den ich eigentlich schon lange auf Englisch hatte lesen wollen: Charles Dickens‘ „Oliver Twist“!

Im Moment ist vielleicht noch nicht ersichtlich warum, aber für den späteren Verlauf dieser Geschichte ist es von Vorteil, den Inhalt dieses Romans grob zu kennen. Oder merkt euch zumindest, falls ihr es nicht sowieso irgendwo im Hinterkopf habt, das Folgende:

Oliver Twist, der Titelheld, wächst als Waisenkind auf, das Schicksal meint es absolut nicht gut mit ihm, er verbringt seine Kindheit in diversen zweilichtigen Einrichtungen, immer mit den falschen Leuten, immer hungrig („Brooot, himmlisches Brooot“ singen sie im Musical – Familie Schwab sollte Bescheid wissen) und immer unter lebensunwürdigen Bedingungen und als er schließlich den Entschluss fasst zu fliehen, hat er leider ein weiteres Mal Pech und landet in den Fängen einer jungen Diebesbande, die von einem älteren Herrn fragwürdigen Hintergrunds angeleitetet wird (ganz im Ernst, Oliver Twist’s England scheint zu 80 Prozent aus bösen Menschen zu bestehen und es deprimiert mich). Und da hör ich auch schon auf, wir sind nämlich am Punkt angelangt. Da wird in diesem Buch also andauernd geklaut und da wird ein Verbrechen nach dem anderen begangen und die Moral von der Geschicht ist bis zu diesem Punkt in der Handlung ganz offensichtlich „Vertraue niemandem – Menschen sind böse!“. Gut, merkt euch das also mal soweit.

Das Uspha-Uspha-Projekt

Jetzt müsst ihr noch ein bisschen über unsere anderen Einsatzstellen in Uspha-Uspha Bescheid wissen. Im Prinzip arbeiten wir da auch im Bereich Hausaufgabenhilfe, nur dass die Projekte an beiden Standorten noch sehr jung sind und auch insgesamt weniger Struktur da ist als in Piñami. Mittagessen gibt es da zum Beispiel nicht. Die Region Uspha-Uspha ist außerdem ein absolutes Armenviertel. Sie liegt am Hang (Cochabamba ist ja von Bergen umgeben) und es hat kleine Hütten und Kakteen und kahle, trockene Flächen soweit das Auge reicht. Die Höhe hat zudem zur Folge, dass man Sonne und Wind extrem ausgesetzt ist. Das alles macht es im Vergleich zu Piñami noch einmal zu einer ganz neuen und sehr interessanten Erfahrung.

Trufis

Um in diese abgelegenere Gegend zu kommen müssen wir allerdings regelmäßig pendeln. Montags und Donnerstags fahren wir also jeweils eineinhalb Stunden hin und entsprechend eineinhalb Stunden zurück und zwar mit einem Transportmittel, dass sich „trufi“ nennt. „Trufi“ ist eine Abkürzung (Abkürzungen haben sie hier sehr gern) und bedeutet „taxi con ruta fijada“, also so viel wie „Taxi mit fester Route“. Das heißt in der Praxis, man stellt sich an den Straßenrand, wartet bis das trufi mit der richtigen Nummer vorbeikommt, winkt es heran, steigt ein, ruft dem Fahrer zu, wenn man wieder raus möchte, zahlt ihm einen schockierend niedrigen Preis durchs Beifahrerfenster und schon ist man am Zielort, oder zumindest an der nächsten Ecke in der Nähe. Die Gefährte selbst sind kleine Minivans einer Automarke, die ich nicht kenne, aber sie ähneln von der Bauart her den kantigen VW-Bussen, Modell T3, die man bei uns auch noch ab und zu sieht. Von außen haben sie meist irgendwelche schicken Flammenaufkleber, Schriftzüge oder sonstige Verzierungen und von innen…Naja an sich könnte man sagen, die wurden einmal ausgehöhlt und dann mit der doppelten Anzahl an Sitzen wieder ausgestopft. Und immer wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo noch ein Sitzchen und immer noch eines her – denn es gibt sie auch in Ausklappvariante – bis dann irgendwann etwa 15, 20 Leute in diesem wackligen Ding Platz gefunden haben. So muss man sich das vorstellen.

La Cancha

Um nach Uspha-Uspha zu kommen, müssen wir mit dem Trufi zunächst bis zur „Cancha“ fahren. Ich weiß nicht, ob ich die schon mal erwähnt habe, aber im Grunde genommen ist das ein riesen Marktgelände, wo man an endlosen Ständen in überdachten Hallen und in kleinen Pop-up-Läden so ziemlich alles findet, was das Herz begehrt. Ich muss demnächst mal ein paar Fotos posten, weil sich die Atmosphäre und die Flut an Eindrücken die einen da erwartet, kaum in Worte fassen lässt. Es ist einfach wahnsinnig viel los und immer wuseln alle möglichen Menschen um einen herum, wollen irgendwas verkaufen oder kaufen, sind am handeln, beliefern Verkäufer oder bewerben durch fahrbare Lautsprecher, die den immer gleichen Slogan herumposaunen, ein Produkt. Und dann ist die Cancha obendrein noch ein Knotenpunkt was Personentransport angeht. Das Busterminal befindet sich in direkter Nachbarschaft und alle möglichen Trufi- und Buslinien laufen da durch. Die perfekten Bedingungen also für Menschen, die ausnahmsweise weder kaufen, noch auf gesetzestreue Art und Weise verkaufen, sondern lieber ganz anders zu ihren „Einkäufen“, beziehungsweise zu Geld kommen möchten.

Und damit wären wir wieder beim Oliver angelangt.

Oliver Twist und die Ironie des Schicksals

Grundsätzlich war mir die Cancha-Situation so schon bewusst. Man hat uns ja nicht umsonst immer wieder eingeschärft, auf unsere Wertgegenstände Acht zu geben, besonders in Menschenmengen oder auf Märkten. Und mit Oliver Twist als ständigen Mahner im Hinterkopf war ich natürlich ganz besonders aufmerksam. Eigentlich war ich sogar durchgehend angespannt – selbst im Trufi mit geschlossenen Fenstern habe ich teilweise Warnungen ausgesprochen und hatte meine Tasche stets nervös an mich gepresst.

Ihr ahnt, worauf die Geschichte hinausläuft.

Das was ich so zwanghaft zu vermeiden versucht hatte, ist mir passiert. Und es war ganz allein meine Unvorsichtigkeit, die dazu geführt hat (wenn man vom Bösen im Menschen, bzw vom Bösen in diesem einen bestimmten, mal absieht). Wir waren auf dem Weg nach Uspha gewesen und wie immer auf der Cancha ausgestiegen. Unser Anschlusstrufi wollte nur leider nicht auftauchen, weshalb ich, geschützt durch Johanna, eine Nachricht an unsere Zuständige im Projekt schickte. Kurz darauf kam dann doch die richtige Nummer vorbei und ich – zum ersten und letzten Mal – stieg aus irgendeinem Grund nicht wie sonst hinten, sondern vorne neben dem Fahrer ein. Fenster war natürlich auf, die Leute müssen ja zahlen. Da hätten die Alarmglocken schon läuten müssen. Ham ’se aber leider nicht. Und so dachte ich mir nach ein paar Minuten, es sei doch eine gute Idee jetzt mal schnell das Handy rauszuholen und zu prüfen, ob meine Nachricht empfangen worden war. War sie. Ich konnte sogar noch die Antwort lesen. Aber dann war es auch schon weg, das Handy. Das Trufi hatte nämlich unterdessen angehalten, um neue Fahrgäste einsteigen zu lassen und bei dieser Gelegeheit muss sich ein schlauer Fuchs gedacht haben, dass das doch der perfekte Moment ist, um einer naiven gringa das bestimmt nigelnagelneue und wahnsinnig teure Handy abzunehmen. Er konnte ja nicht ahnen, dass das Ding in seinem dreijährigen Leben weder Schutzhülle noch -folie gesehen hat und außerdem Überlebender zweier Wasserschäden ist, einer davon involvierte eine Kloschüssel. Also eine Lose-Lose Situation für uns beide. Mir blieb von dieser schicksalhaften Zusammenkunft nämlich nichts als ein böser Kratzer am linken Ringfinger – da muss mich der Übeltäter zur Ablenkung mit irgendwas attackiert haben.

Blöd gelaufen. Aber dafür konnte ich meine alte bolivianische Nummer wieder aktivieren und ich habe jetzt ein neues Handy, das wahrscheinlich durch das Umgehen von Zollgebühren und das Austauschen irgendwelcher Einzelteile zu seinem ausgesprochen günstigen Angebotspreis gekommen war. Egal, ich bin zufrieden.

Nur der Oliver wird jetzt wahrscheinlich aus einer fiktiven Wolke vom bolivianischen Himmel aus auf mich herabblicken, den Kopf schütteln und weinen. Es hat hin und wieder geregnet letzte Woche, übrigens. Unwichtige Nebeninformation.

Seien es nun Mitleidstränen oder Schadenfreude – was auch immer meine zugegebenermaßen ziemlich lange Geschichte bei euch ausgelöst hat, ich hoffe ihr fühlt euch  gut unterhalten und informiert. Ein paar mehr Fotos folgen bei nächster Gelegenheit!

Grüße

Clara[:]